FAZ Essay – der Podcast für die Geschichte hinter den Nachrichten

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FAZ Essay (Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ)

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Als die Panzer kamen

Vor genau achtzig Jahren begann die sowjetische Okkupation Litauens, Lettlands und Estlands. Was damals geschehen ist, sorgt heute für neue politische Konflikte, weil Russland die Legende vom freiwilligen Beitritt der drei Länder zur Sowjetunion wieder aufleben lässt. Die Geschichte des Einmarsches in drei Länder, die sich in einer aussichtslosen Lage befanden.

Von Professor Dr. Joachim Tauber

Gegen 1.30 Uhr in der Nacht am 15. Juni 1940 trafen sich im Palais des litauischen Präsidenten Antanas Smetona in Kaunas die Mitglieder der Regierung und der Armeeführung zu einer Krisensitzung. Smetona informierte sie über ein sowjetisches Ultimatum, in dem die Entlassung einiger Moskau nicht genehmer Regierungsmitglieder, die Bildung einer sowjetfreundlichen Regierung und der Einmarsch einer unbegrenzten Zahl sowjetischer Soldaten gefordert wurde. Das Ultimatum laufe gegen 10.00 Uhr ab. Der sowjetische Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow habe wissen lassen, dass die Rote Armee auf jeden Fall in Litauen einmarschieren werde, auch wenn keine Zustimmung der litauischen Regierung vorliege.

Die Lage Litauens, Lettlands und Estlands war schon vor diesem Ultimatum verzweifelt. Der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 hatte Hitler den Weg frei gemacht für den Überfall auf Polen, mit dem am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg begann. Und der sowjetische Einmarsch in den Osten Polens am 17. September und die darauffolgende Aufteilung des Landes zwischen Deutschland und der Sowjetunion hatten gezeigt, dass die beiden totalitären Mächte gemeinsame Sache gegen ihre Nachbarn machten. In den geheimen Zusatzprotokollen zum Hitler-Stalin-Pakt und zum deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsabkommen vom 28. September 1939 waren die baltischen Staaten, die sich nach dem deutschen Überfall auf Polen für neutral erklärt hatten, der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen worden.

Litauen war insofern ein Sonderfall, als es zunächst der deutschen Interessensphäre angehörte und erst im September auf Moskaus Vorschlag im Tausch für polnische Gebiete in die sowjetische gelangt war. Die deutsche Seite hatte lediglich ihr Interesse an einem kleinen Streifen litauischen Grenzgebietes betont. Der deutsche Botschafter in Moskau, Graf von der Schulenburg, ein entschiedener Gegner Hitlers, der später als Verschwörer des 20. Juli 1944 hingerichtet werden sollte, ließ an der Interpretation des Begriffs "Interessensphäre" in seinem Bericht an das Auswärtige Amt vom 3. Oktober 1939 keinen Zweifel: "Ich stelle aber zur Erwägung, ob wir nicht in einem besonderen vertraulichen deutsch-sowjetischen Protokoll solange auf die Abtretung des litauischen Gebietsstreifens verzichten sollten, bis die Sowjetunion Litauen tatsächlich einverleibt, von welchem Gedanken meines Erachtens bei der Vereinbarung über Litauen ausgegangen worden ist."

Litauen war insofern ein Sonderfall, als es zunächst der deutschen Interessensphäre angehörte und erst im September auf Moskaus Vorschlag im Tausch für polnische Gebiete in die sowjetische gelangt war. Die deutsche Seite hatte lediglich ihr Interesse an einem kleinen Streifen litauischen Grenzgebietes betont. Der deutsche Botschafter in Moskau, Graf von der Schulenburg, ein entschiedener Gegner Hitlers, der später als Verschwörer des 20. Juli 1944 hingerichtet werden sollte, ließ an der Interpretation des Begriffs "Interessensphäre" in seinem Bericht an das Auswärtige Amt vom 3. Oktober 1939 keinen Zweifel: Die Folgen der geheimen Absprachen zwischen Berlin und Moskau ließen nicht lange auf sich warten. Ende September 1939 wurden die Vertreter der baltischen Staaten nach Moskau geladen. In brüskierender Offenheit eröffneten die sowjetischen Machthaber als Erstem dem estnischen Außenminister Karl Selter, man fordere die Stationierung von Einheiten der Roten Armee in exterritorialen Militärbasen in Estland und den Abschluss eines Militärbündnisses. In dem Vertrag vom 28. September 1939, der als Muster für Abmachungen mit Lettland und Litauen dienen sollte, hieß es, man werde von sowjetischer Seite die Souveränität des Landes, insbesondere seine politische und ökonomische Ordnung respektieren und sich nicht in die inneren Angelegenheiten einmischen. Lettland war als Nächstes an der Reihe und fügte sich am 5. Oktober.

Litauen war insofern ein Sonderfall, als es zunächst der deutschen Interessensphäre angehörte und erst im September auf Moskaus Vorschlag im Tausch für polnische Gebiete in die sowjetische gelangt war. Die deutsche Seite hatte lediglich ihr Interesse an einem kleinen Streifen litauischen Grenzgebietes betont. Der deutsche Botschafter in Moskau, Graf von der Schulenburg, ein entschiedener Gegner Hitlers, der später als Verschwörer des 20. Juli 1944 hingerichtet werden sollte, ließ an der Interpretation des Begriffs "Interessensphäre" in seinem Bericht an das Auswärtige Amt vom 3. Oktober 1939 keinen Zweifel: Auch dem litauischen Außenminister Juozas Urbsys erläuterten Stalin und Molotow, wie man sich die "Freundschaft" vorstelle. Aus sowjetischer Sicht besaß Litauen wegen des polnisch-litauischen Streits um Vilnius einen besonderen Status. Litauen sah in der Stadt, die seit Beginn der 1920er Jahre zu Polen gehörte, seine historische Hauptstadt. In diesem Konflikt hatten die Sowjetunion und das Deutsche Reich eine ostentative politische Unterstützung der litauischen Forderungen genutzt, um eine Annäherung zwischen Polen und dem baltischen Raum zu verhindern. Noch das geheime Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 spiegelte diese Politik wider, weil in ihm "im Falle einer territorial-politischen Umgestaltung . . . das Interesse Litauens am Wilnagebiet beiderseits anerkannt" worden war. Stalin wies Urbsys darauf hin, dass die Sowjetunion als "wahrer Freund" Litauens das Vilniusgebiet zurückgebe, während die Deutschen die Suwalkiregion für sich beanspruchten. Die Versuche von Urbsys, auf die Vorteile der baltischen Neutralität hinzuweisen, quittierten die Sowjets mit dem Hinweis auf Polen, das sich geweigert habe, einen Beistandspakt mit Moskau abzuschließen, und nun von der Landkarte verschwunden sei. Am 10. Oktober 1939 unterschrieben schließlich auch die Litauer.

Einige Wochen später betonte Molotow vor dem Obersten Sowjet: "Wir stehen für die ehrliche und genaue Durchführung der abgeschlossenen Pakte . . . und erklären, dass das Geschwätz über die Sowjetisierung der baltischen Länder nur unseren gemeinsamen Feinden und allen möglichen antisowjetischen Provokationen nützlich sein kann." Seine Worte hatten nicht lange Bestand. Die sowjetische Seite warf den baltischen Staaten bald Verstöße gegen den Geist der Verträge und antisowjetisches Verhalten im Umfeld der Regierungen vor. Schließlich behauptete Moskau, die litauischen Behörden hätten Rotarmisten entführt und gewaltsam verhört. Alle Versuche der litauischen Regierung zur Klärung der Vorwürfe scheiterten. Stattdessen wurden der litauische Regierungschef und sein Außenminister im Juni 1940 in den Kreml bestellt. Dort bezichtigte Molotow sie, ein antisowjetisches Militärbündnis mit Lettland und Estland geschlossen zu haben und stellte ihnen das eingangs erwähnte Ultimatum.

In der nächtlichen Krisensitzung über die sowjetischen Forderungen in Kaunas sprachen sich einige Teilnehmer, darunter Präsident Smetona, für bewaffneten Widerstand aus. Es finde eine Okkupation statt, man müsse das deutlich machen. Doch am Ende entschloss man sich dafür, das Ultimatum anzunehmen. Ausschlaggebend waren zwei Aspekte, die von den Militärs vorgebracht wurden: Eine Mobilisierung der litauischen Armee sei sinnlos, man habe gegen die bereits in Litauen stationierten Rotarmisten und die aus Russland einrückenden Einheiten keine Chance. Der Versuch werde zudem in einem Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung und der Zerstörung des Landes enden. So erhielt die litauische Armee den Befehl, die Rote Armee willkommen zu heißen. Der Staatspräsident floh aus dem Land - er watete mit Schuhen und Strümpfen in den Händen durch ein Grenzflüsschen bei Eydtkuhnen nach Ostpreußen, weil ein deutscher Grenzer ihm und seinem Gefolge den Übertritt verweigert hatte. Zu dieser Zeit fuhren sowjetische Panzer bereits durch Kaunas.

Unmittelbar nach den Litauern wurden Delegationen aus Lettland und Estland in den Kreml zitiert, wo sie am 16. Juni 1940 analoge sowjetische Ultimaten erhielten. Am 17. Juni 1940 rückte die Rote Armee in Lettland ein, einen Tag danach in Estland. Der Zeitpunkt war geschickt gewählt, denn Mitte Juni 1940 fesselte der "Blitzkrieg" des Dritten Reiches gegen Frankreich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit: Am 14. Juni 1940 waren deutsche Truppen in Paris einmarschiert.

Stalin entsandte umgehend Sonderbevollmächtigte in die drei Länder, die seinem nächsten Umfeld entstammten: Der bekannteste war der für Lettland zuständige Andrej Wyschinskij, zuvor Chefankläger in den Schauprozessen gegen alte Weggefährten Lenins während der Säuberungen der dreißiger Jahre. Innerhalb weniger Wochen vollzog sich eine Farce, die zur Blaupause für kommunistische Machtergreifungen im sowjetisch dominierten Ostmitteleuropa nach 1945 wurde: Wahlen zu neuen "Volksparlamenten", die dann Weisungen aus Moskau umsetzten.

Stalin entsandte umgehend Sonderbevollmächtigte in die drei Länder, die seinem nächsten Umfeld entstammten: Die Abstimmungen waren gefälscht. Es gab zwar nur eine einzige Kandidatenliste, doch sowohl die Wahlbeteiligung als auch die Zustimmung zu ihr wurden nach oben "korrigiert", um die Legitimation zu erhöhen. Die bis Mitte Juli in allen drei baltischen Ländern installierten "Volksparlamente" baten dann um Aufnahme in die Sowjetunion, die ihnen vom Obersten Sowjet auch gewährt wurde. Litauen wurde am 3. August 1940 Sowjetrepublik, Lettland zwei Tage später und am 6. Oktober schließlich auch Estland.

Damit war die Unabhängigkeit zu Ende, die die drei Länder am Ende des Ersten Weltkriegs beim Untergang des Zarenreichs errungen hatten. Wie in den meisten ostmitteleuropäischen Nationalstaaten hatte die Demokratie auch im Baltikum nicht lange Bestand. In Litauen errichtete Antanas Smetona, 1918 ein Mitbegründer der Republik, nach einem Staatsstreich national gesinnter Offiziere im Dezember 1926 eine autoritäre Herrschaft, der sich auf eine völkisch-nationale Gruppierung stützte. Einen ähnlichen Weg beschritten Anfang der dreißiger Jahre in Riga und Tallinn Männer, die gleichfalls profilierte Anführer der Unabhängigkeitsbewegungen waren: Karlis Ulmanis in Lettland und Konstantin Päts in Estland.

Damit war die Unabhängigkeit zu Ende, die die drei Länder am Ende des Ersten Weltkriegs beim Untergang des Zarenreichs errungen hatten. Wie in den meisten ostmitteleuropäischen Nationalstaaten hatte die Demokratie auch im Baltikum nicht lange Bestand. In Litauen errichtete Antanas Smetona, 1918 ein Mitbegründer der Republik, nach einem Staatsstreich national gesinnter Offiziere im Dezember 1926 eine autoritäre Herrschaft, der sich auf eine völkisch-nationale Gruppierung stützte. Einen ähnlichen Weg beschritten Anfang der dreißiger Jahre in Riga und Tallinn Männer, die gleichfalls profilierte Anführer der Unabhängigkeitsbewegungen waren: Die Sowjetmacht ließ schon im Sommer 1940 keinen Zweifel daran, dass sie die Vertreter und Funktionsträger der unabhängigen Staaten (wozu auch einfache Lehrkräfte und Beamte gezählt wurden) als Klassenfeinde betrachtete. Hinzu kam eine völlige Zerstörung der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung hin zur Verstaatlichung der Wirtschaftsbetriebe und zur Vergemeinschaftung des privaten Eigentums.

Am 14. Juni 1941, fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Okkupation, begann in allen drei Republiken die bis dahin größte Aktion gegen die vermeintlichen Gegner der Sowjetmacht. Die Verhaftungswelle, bei der Zehntausende Menschen deportiert wurden, fand zur Einschüchterung in aller Öffentlichkeit statt; die Festgenommenen und ihre Familien wurden zu den Bahnhöfen verfrachtet und von dort in Güterwagen in das Innere der Sowjetunion gebracht. Algirdas Serenas, der 1941 mit seiner Familie in den Norden Russlands deportiert wurde, berichtete 1991: "Vor dem Haus oder Garten fuhr ein Lastwagen vor. In ihm befanden sich der Anführer der Operation - ein Sicherheitsbeamter, der Sekretär des örtlichen Parteikomitees, irgendein Offizier aus dem Verwaltungsaktiv oder der Sicherheit. Die Zivilisten waren mit Pistolen bewaffnet, die Soldaten mit Gewehren. Die Exekutoren drangen in die Häuser ein, weckten die Hausherren und übergaben einen Durchsuchungsbefehl. Schon durch die Übergabe des Durchsuchungsbefehls konnte jeder mit gesundem Verstand erkennen, dass alles, was sich in den Häusern befand, uns schon nicht mehr gehörte und wir irgendwohin verschleppt werden würden. Vater, der durch die ungebetenen Gäste geweckt worden war, erkannte, dass sie gekommen waren, um ihn zu verhaften, und . . . sprang dem unter dem Fenster stehenden Wachtposten fast auf den Kopf. Er versuchte zu fliehen, aber der Soldat feuerte aus nächster Nähe vier Schüsse auf ihn ab. Vater erkannte, dass er erschossen werden würde, und hob die Hände. Noch heute sehe ich meinen Vater mit dem weißen Hemd und der grauen Hose barfuß . . . mit gefalteten Händen dastehen."

Am 14. Juni 1941, fast auf den Tag genau ein Jahr nach der Okkupation, begann in allen drei Republiken die bis dahin größte Aktion gegen die vermeintlichen Gegner der Sowjetmacht. Die Verhaftungswelle, bei der Zehntausende Menschen deportiert wurden, fand zur Einschüchterung in aller Öffentlichkeit statt; die Festgenommenen und ihre Familien wurden zu den Bahnhöfen verfrachtet und von dort in Güterwagen in das Innere der Sowjetunion gebracht. Algirdas Serenas, der 1941 mit seiner Familie in den Norden Russlands deportiert wurde, berichtete 1991: In die laufenden Deportationen hinein begann am 22. Juni 1941 der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Angesichts dessen, was sie gerade erlebt hatten, wurden die deutschen Truppen von vielen Menschen im Baltikum als Befreier empfangen. Mit der deutschen Besatzung begann jedoch der blutigste Abschnitt der baltischen Geschichte, an dessen Ende die fast vollständige Ermordung der litauischen und lettischen Juden stand (in Estland lebten nur wenige Juden). Die deutschen Täter konnten sich auf die Mithilfe von Litauern und Letten stützen, Einheimische beteiligten sich an Mordkommandos und Pogromen und übernahmen die Bewachung der Ghettos.

In der sowjetischen Darstellung sind die Balten der Sowjetunion 1940 freiwillig beigetreten. Die Diskrepanz zwischen dieser in der Sowjetunion verbindlichen öffentlichen Sicht und dem, was zwischen Juni 1940 und Juni 1941 wirklich geschehen ist, blieb in der Bevölkerung der drei Republiken immer präsent. Sie prägte die Wahrnehmung in den sozialen Nischen der Sowjetrepubliken weit mehr, als man im Westen glaubte, bis Ende der achtziger Jahre für Beobachter von außen vollkommen unerwartet machtvolle Unabhängigkeitsbewegungen entstanden. Damals verband sich die unterdrückte historische Wahrheit mit dem aktuellen politischen Geschehen: Das Symbol des baltischen Kampfes um die Unabhängigkeit wurde die Via Baltica. In ihr verdichtete sich die Erinnerung an die Geschehnisse von 1939/40 zu einer ungeahnten politischen Wucht.

In den drei baltischen Staaten hatten sich die zur Unterstützung der Reformpolitik Michail Gorbatschows gegründeten Gruppierungen rasch in Nationalbewegungen gewandelt. Bei einem Treffen der drei Organisationen entstand die Idee, den 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes zu nutzen, um die Weltöffentlichkeit auf spektakuläre Weise auf die Okkupation der baltischen Staaten hinzuweisen. Schon in den Jahren zuvor hatte es am 23. August anfangs kleine und später große Demonstrationen gegeben, doch nun sollte eine Massenaktion all dies weit in den Schatten stellen: Am 23. August 1989 bildeten gegen 18.00 Uhr Esten, Letten, Litauer, aber auch in den baltischen Republiken lebende Russen, Weißrussen und Juden eine Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius. Man schätzt, dass sich mehr als zwei Millionen Menschen an der über 600 Kilometer langen Kette beteiligten.

Dieses Ereignis wurde von vielen Menschen im Baltikum als Zäsur empfunden: "Ich erinnere mich noch, wie ich die Fahne am Morgen des 23. August 1989 aus meinem Elternhaus geholt habe. Mein Vater hatte sie im Pferdestall versteckt, in einem doppelten Dachboden. Während der Sowjetzeit wäre er in Teufels Küche gekommen, wenn sie jemand entdeckt hätte. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für ein erhebendes Gefühl das war: Endlich konnten wir sie wieder offen zeigen. Wir haben die Fahne dann zusammen hochgehalten: drei Generationen - mein Vater, ich und mein Sohn", berichtet der Lette Janis Kuopmanis.

Dieses Ereignis wurde von vielen Menschen im Baltikum als Zäsur empfunden: Alle drei baltischen Staaten legten im Moment ihrer Unabhängigkeitserklärungen Wert darauf, die Sowjetperiode auch völkerrechtlich zu delegitimieren. In Litauen etwa trat die letzte Verfassung des Smetona-Regimes für eine Stunde in Kraft, um das Fortbestehen des litauischen Vorkriegsstaates zu bekräftigen, bevor eine provisorische demokratische Verfassung in Kraft gesetzt wurde. Ähnlich verfuhren die Esten, die sich auf ihr Grundgesetz von 1937 beriefen, das im Sommer 1992 durch eine neue Verfassung abgelöst wurde. Die Letten setzten die letzte Konstituante der Zwischenkriegszeit wieder in Kraft und modernisierten sie in den folgenden Jahren.

Dieses Ereignis wurde von vielen Menschen im Baltikum als Zäsur empfunden: Im Baltikum wird bis heute darüber debattiert, welche Handlungsmöglichkeiten es zwischen Herbst 1939 und Juni 1940 gab. Insbesondere der zwar mit großen Gebietsverlusten verbundene, letztlich aber erfolgreiche militärische Widerstand Finnlands im Winterkrieg gegen die Sowjetunion 1939/40 wird gerne als Vergleich herangezogen. Allerdings war die strategische Situation Finnlands eine ganz andere als die der Balten. Sie hatten in ihrem Rücken nur die Ostsee, und nicht die neutralen Länder Norwegen (bis zur deutschen Besetzung im April 1940) und Schweden. Hinzu kam, dass es allein die Aussicht auf eine Intervention der Westmächte war, die Moskau im März 1940 zu einem Einlenken gegenüber Finnland bewegte. Das Argument, bewaffneter Widerstand gegen die Okkupanten wäre zu einem letztlich sinnlosen Blutbad geworden, wiegt noch immer schwer.

Dieses Ereignis wurde von vielen Menschen im Baltikum als Zäsur empfunden: Die Ereignisse von 1939/40 sind heute wieder Gegenstand politischen Streits. Offiziell hielt Russland immer an der Behauptung fest, die baltischen Staaten seien der Sowjetunion freiwillig beigetreten - auch, um den Forderungen nach Entschädigung für die Okkupationszeit, die in den drei Staaten immer wieder aufkommen, rechtlich zu begegnen. Aber in den vergangenen Jahren wird diese Darstellung in russischen Medien und Publikationen immer lautstärker verkündet. Präsident Wladimir Putin bezeichnete jüngst den Hitler-Stalin-Pakt als defensiven und alternativlosen Schritt vor dem Hintergrund sinistrer Pläne der kapitalistischen Staaten.

Gegensätzlicher könnte die Wahrnehmung nicht sein: In den baltischen Staaten kann niemand etwas mit dem Tag des Sieges anfangen, als den die Russen das Ende des Zweiten Weltkriegs am 9. Mai 1945 begehen. Für Esten, Letten und Litauer begann damals ein Jahrzehnt stalinistischer Herrschaft, dem Zehntausende zum Opfer fielen und dem Jahrzehnte der Fremdbestimmung folgten. Die Partisanenkämpfe gegen die Sowjetmacht in den ersten Jahren und der Widerstand baltischer Dissidenten in den späteren Jahren der Sowjetherrschaft sind heute zentraler Teil der nationalen Erinnerung und bilden eine Brückenfunktion zwischen 1940 und den späten achtziger Jahren. Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit 1989/91 ist Teil der nationalen Identität der Balten.

Gegensätzlicher könnte die Wahrnehmung nicht sein: Wie schwierig das Erbe der doppelten Okkupation durch die Sowjetunion und NS-Deutschland ist, zeigt sich am Umgang mit dem Holocaust. Die Narrative der Erinnerung an den Holocaust und an die sowjetische Besatzung stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander; schnell ist von einer "Opferkonkurrenz" die Rede. In Litauen dreht sich die erinnerungspolitische Diskussion um die Schnittstelle zwischen der Kollaboration mit den Deutschen und dem Widerstand gegen die Sowjetmacht. Der Kampf der litauischen Partisanen, der bis 1953 andauerte, wurde nach 1990 zu einem identitätsstiftenden Symbol, wobei versäumt wurde, genauer in Augenschein zu nehmen, welche Rolle einige der Widerstandskämpfer während der deutschen Besatzung gespielt haben.

Gegensätzlicher könnte die Wahrnehmung nicht sein: Als die Schriftstellerin Ruta Vanagaite vor zwei Jahren einem von den Sowjets gefolterten und hingerichteten Nationalhelden auf der Grundlage einer dilettantischen Quelleninterpretation und ohne Beleg unterstellte, er habe sowohl mit den Nationalsozialisten kollaboriert als auch Verrat an den eigenen antisowjetischen Partisanen begangen, erhob sich ein Sturm der Entrüstung, der deutlich machte, wie präsent die Geschehnisse noch sind. Nationalisten nutzten die Affäre als Vorwand, auch gegen ein 2016 erschienenes Buch Vanagaites über die Mitwirkung von Litauern am Holocaust zu polemisieren. Dieses Buch war in Litauen ein Bestseller und hat zusammen mit mehreren anderen Publikationen und Initiativen bewirkt, dass sich eine breite Öffentlichkeit des Themas bewusst wurde.

Gegensätzlicher könnte die Wahrnehmung nicht sein: In Estland führte die Entfernung des Denkmals eines Sowjetsoldaten im Zentrum der Hauptstadt Tallinn 2007 zu Protesten und Unruhen der russischsprachigen Bevölkerung. Während diese in dem Bronzesoldaten ein Symbol für die Befreiung sah, war er für die Esten ein Symbol für die Okkupation ihres Landes.

Die Geschichte des antisowjetischen Widerstands wirkt in der Politik weiter. In Litauen ist beispielsweise im Artikel 3 der Verfassung, unmittelbar nach der Festschreibung der demokratischen Staatsform festgehalten: "Das Volk sowie jeder Bürger sind berechtigt, sich jedem zu widersetzen, der mit Zwangsmitteln gegen die Unabhängigkeit, die territoriale Integrität oder die Verfassungsordnung des litauischen Staates vorgeht." Das Weißbuch der litauischen Armee von 2016 sieht darin ausdrücklich den Kern der eigenen Verteidigungsdoktrin: Jeder Bürger habe das Recht, dem Aggressor Widerstand zu leisten. Es gibt keinen Zweifel, dass die Menschen in allen drei baltischen Staaten das bei einem neuerlichen Angriff auf die Unabhängigkeit ihrer Länder auch täten.

Die Geschichte des antisowjetischen Widerstands wirkt in der Politik weiter. In Litauen ist beispielsweise im Artikel 3 der Verfassung, unmittelbar nach der Festschreibung der demokratischen Staatsform festgehalten: Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine haben alte Ängste heraufbeschworen und neue geschürt. Sie werden nicht zuletzt durch die Wiederkehr der sowjetischen Interpretation des Hitler-Stalin-Paktes in der russischen Führung verstärkt.

Im Baltikum - wie allgemein in Ostmitteleuropa - ist das geschichtliche Bewusstsein in Politik und Gesellschaft sehr ausgeprägt. Mit der Okkupation von 1940 verbindet sich daher nicht nur eine besondere Sensibilität für die derzeitige Politik des östlichen Nachbarn, sondern auch der westlichen Welt und insbesondere Deutschlands. Vor diesem historischen Hintergrund wird deutlich, welche Bedeutung die Stationierung von Nato-Einheiten in den baltischen Staaten hat. Denn darin besteht ein fundamentaler Unterschied zur damaligen Situation: Litauen, Lettland und Estland sind seit 2004 Mitglieder der EU und der Nato. Die Zugehörigkeit zur westlichen Wertegemeinschaft bedeutet Sicherheit für die baltischen Staaten und Verpflichtung für Europa.

Im Baltikum - wie allgemein in Ostmitteleuropa - ist das geschichtliche Bewusstsein in Politik und Gesellschaft sehr ausgeprägt. Mit der Okkupation von 1940 verbindet sich daher nicht nur eine besondere Sensibilität für die derzeitige Politik des östlichen Nachbarn, sondern auch der westlichen Welt und insbesondere Deutschlands. Vor diesem historischen Hintergrund wird deutlich, welche Bedeutung die Stationierung von Nato-Einheiten in den baltischen Staaten hat. Denn darin besteht ein fundamentaler Unterschied zur damaligen Situation: Der Verfasser ist Historiker und Leiter des Nordost-Instituts (Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa) in Lüneburg.

Über diesen Podcast

Ein Blick zurück auf die Studentenrevolte von 1968, die von Markus Söder angezettelte Kreuz-Debatte oder der katalanische Nationalismus: Der neue Podcast FAZ Essay widmet sich jede Woche aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen – und gibt ihnen mit geistreichen Beiträgen von Wissenschaftlern und Politikern Tiefe und Substanz. Daniel Deckers, Politikredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, trägt die Essays aus dem Ressort „Die Gegenwart“ vor – und bietet damit umfassende Einsichten in die Geschichte hinter den Nachrichten.

von und mit Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ

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