FAZ Essay – der Podcast für die Geschichte hinter den Nachrichten

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FAZ Essay (Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ)

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Der Tag des Sieges

Das Kriegsgedenken in Russland war mit seinen monumentalen Denkmälern und Paraden immer eine staatliche Inszenierung. Aber es war stets auch sehr viel mehr: Wie sich die Bedeutung des 9. Mai 1945 über die Jahrzehnte gewandelt hat.

Das Kriegsgedenken in Russland war mit seinen monumentalen Denkmälern und Paraden immer eine staatliche Inszenierung. Aber es war stets auch sehr viel mehr: Von Dr. Mischa Gabowitsch

Das Kriegsgedenken in Russland war mit seinen monumentalen Denkmälern und Paraden immer eine staatliche Inszenierung. Aber es war stets auch sehr viel mehr: Einer der Höhepunkte der - wegen der Corona-Pandemie verschobenen - öffentlichen Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der deutschen Kapitulation am Ende des Zweiten Weltkriegs sollte in Russland die Enthüllung eines neuen Ehrenmals für gefallene Soldaten sein. Die Anlage bei Rschew, 230 Kilometer westlich von Moskau, wird von einer 25 Meter hohen Bronzestatue gekrönt. Das Monument stellt einen Schwarm Kraniche dar - sie sind seit den fünfziger Jahren Sinnbild für die Seelen der Gefallenen -, die nach oben hin zur Figur eines einzelnen Soldaten verschmelzen. Der Bronzehüne steht für die offiziell etwa 400 000 sowjetischen Gefallenen der Schlachten um Rschew in den Jahren 1942 bis 1943, die zu einem geeinten, heldenhaften Volkskörper verschmelzen. Im Ehrenmal sind ihre Namen - soweit sie bekannt sind - auf Stahlplatten verzeichnet, auf denen die Buchstaben wiederum Silhouetten einzelner Soldaten bilden. Angehörige können über ein Internetportal Informationen über ihre Toten einreichen, die dann im Museum multimedial präsentiert werden. An dem Denkmalskomplex lassen sich viele der Veränderungen ablesen, die das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg in Russland in einem vieldeutigen Wechselspiel zwischen Staat und Gesellschaft über die Jahrzehnte erfahren hat.

Das Kriegsgedenken in Russland war mit seinen monumentalen Denkmälern und Paraden immer eine staatliche Inszenierung. Aber es war stets auch sehr viel mehr: Die Idee, Aufopferung und Heldenmut der vielen Gefallenen in einer einzelnen Figur zu verkörpern, ist für die sowjetische Tradition des Kriegsgedenkens nicht neu. Im 1949 eröffneten Ehrenmal in Berlins Treptower Park steht dafür die von Jewgenij Wutschetitsch entworfene Statue des Befreiersoldaten. Doch die Berliner Anlage wurde seinerzeit bewusst anonym gehalten. Die Namen der Tausenden dorthin umgebetteten Soldaten finden keine Erwähnung, ihre Sammelgräber sind nicht gekennzeichnet. Im Bild der kollektiven Ruhmestat blieb für den Einzelnen kein Platz. Allenfalls dienen ihre Knochen dazu, den Gedenkkomplex mit der Authentizität des massenhaften Opfertodes zu heiligen. Ähnlich verhält es sich mit der 1967 fertiggestellten Mutter-Heimat-Statue in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad. In dem ebenfalls von Wutschetitsch entworfenen Ehrenmal sind die Namen eines Teils der Gefallenen wenigstens aufgelistet, doch visuell ist ihre Vielfalt auch hier in Form eines Grabhügels gleichsam eingestampft.

Der Rschewer Soldat soll nach dem Willen der Auftraggeber die Bilderwelt des russischen Siegeskults ebenso nachhaltig prägen wie die millionenfach reproduzierten Silhouetten der Statuen in Berlin und Wolgograd. Mit dem Fokus auf die Einzelnen und ihre Namen wird dabei jedoch einer Entwicklung Rechnung getragen, in der die Historiker Manfred Hettling und Jörg Echternkamp eine allgemeine Tendenz im weltweiten Gefallenengedenken sehen: der Individualisierung der Erinnerung. Auch in den postsowjetischen Staaten ist dies die vorherrschende Tendenz der vergangenen Jahre. Dafür steht am prägnantesten das "Unsterbliche Regiment", bei dem jedes Jahr am 9. Mai in russischen Städten Hunderttausende mit Porträts von Kriegsteilnehmern aus der eigenen Familie durch die Straßen ziehen.

Diese und andere Gedenkrituale werden von einer Vielzahl von Einzelinitiativen getragen, auch wenn der russische Staat sie gerne als Teil einer gemeinsamen patriotischen Aufwallung zeichnet. So steht der Kranichsoldat auch für eine gegenläufige Entwicklung: die zunehmende Einverleibung des Kriegsgedenkens als sozialer Bewegung durch einen Staat, der gesellschaftliche Autonomie als Bedrohung wahrnimmt. Denn das jetzt verschobene staatliche Veranstaltungsprogramm in Russland mitsamt der Moskauer Militärparade ist nur die Spitze des Eisbergs. Der 9. Mai als Gedenktag war schon immer staatliche Inszenierung - aber er war immer auch sehr viel mehr. Dabei hat sich die Bedeutung dieses Tages im Lauf der Zeit enorm gewandelt.

Diese und andere Gedenkrituale werden von einer Vielzahl von Einzelinitiativen getragen, auch wenn der russische Staat sie gerne als Teil einer gemeinsamen patriotischen Aufwallung zeichnet. So steht der Kranichsoldat auch für eine gegenläufige Entwicklung: In der unmittelbaren Nachkriegszeit ging es in der Sowjetunion noch nicht darum, überlebende Veteranen zu ehren. Der Tag des Sieges war zunächst vor allem eine Propagandaveranstaltung, die die Jugend nach dem Vorbild stilisierter Kriegshelden zu guten Soldaten erziehen sollte. Damals richtete sich der 9. Mai weniger an die Gesamtgesellschaft als an die Armee, die gleichzeitig als wichtigstes Subjekt des Kriegsgedenkens auftrat. Angehörige der Ingenieurkorps errichteten Denkmäler - zuweilen sogar ohne Abstimmung mit der Staats- und Parteiführung -, um die herum dann am 9. Mai Rekruten versammelt wurden. In Ortswahl und Stilistik lehnten sich diese Ehrenmale oft an vorrevolutionäre Monumente an. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg stand in einer Reihe mit Ruhmestaten aus der Zarenzeit, die Stalin noch kurz vor Kriegsausbruch rehabilitiert hatte.

Dabei war der Tag des Sieges keine landesweit einheitliche Veranstaltung: In Leningrad und seinem Umland ließ die kommunistische Partei Ende der 1940er Jahre gerade erst entstandene Museen und Gedenkanlagen schon wieder schließen und versuchte, die Erinnerung an die Blockade der Stadt durch die deutschen Truppen im öffentlichen Raum kleinzuhalten, bei der von September 1941 bis Januar 1944 etwa eine Million Menschen umgekommen waren. Gleichzeitig baute das Militär die Hafenstadt Sewastopol auf der Krim zu einem Ruhmespark aus. In Sibirien und am Ural dienten vor allem die im Krieg gewachsenen Industrieanlagen als Siegesdenkmäler; weiter westlich zeichneten Hunderte Obelisken und Panzermonumente die ehemaligen Frontlinien nach. Zum 9. Mai pflegten Ortsansässige dort - mal hingebungsvoll, mal widerwillig - die unzähligen Sammelgräber der Rotarmisten.

Daneben besaß der Tag des Sieges auch eine geopolitische Dimension: Salutschüsse wurden außer in Moskau und den sogenannten Heldenstädten auch in erst infolge des Krieges sowjetisch gewordenen Städten wie Lemberg oder Kaliningrad abgefeuert. Siegesdenkmale entstanden an den Rändern des Imperiums: In der armenischen Hauptstadt Jerewan etwa blickte eine monumentale Stalin-Statue in Richtung der Türkei. In den neuen Satellitenstaaten von der DDR bis Bulgarien diente der Tag des Sieges der Inszenierung von Verbundenheit mit der Sowjetunion.

Daneben besaß der Tag des Sieges auch eine geopolitische Dimension: Diese Heterogenität prägt bis heute die Erinnerung an die Erinnerung. Unter Liberalen in Moskau und Petersburg hält sich hartnäckig die Vorstellung, Stalin habe den 9. Mai komplett abgeschafft. Aus Angst vor aufmüpfigen Frontheimkehrern habe er das Kriegsgedenken unterbunden; Denkmäler seien nicht gebaut worden, bis unter dem KP-Chef Leonid Breschnew Mitte der sechziger Jahre ein neuer Kult des Großen Vaterländischen Kriegs einsetzte. Die historische Forschung widerlegt dieses Bild jedoch. Tatsächlich waren Gedenkrituale bis 1965 dort von besonderer Bedeutung, wo die Wehrmacht und ihre Verbündeten gewütet hatten, also vor allem in Belarus und der Ukraine sowie im westlichen Teil Russlands. Hier mussten Kriegserinnerungen diszipliniert werden, die sich nicht in das staatliche Narrativ vom einträchtigen Befreiungskampf einfügten. Der 9. Mai und die Jahrestage der Befreiung einzelner Städte boten dafür willkommene Anlässe.

Daneben besaß der Tag des Sieges auch eine geopolitische Dimension: Doch das Bild von einer authentischen Erinnerung "von unten", die sich hin und wieder Freiräume erkämpfte, ist zu einfach. Ohne sozialen Bezugsrahmen kann sich kollektive Erinnerung nicht artikulieren, und Alternativen zum parteistaatlichen Rahmen waren rar. Für die Trauer um die Toten bot allenfalls die Symbolsprache der Religion eine Alternative. Besonders auf dem Land wurden in den Kirchen Totenmessen abgehalten, die halbwegs geduldet wurden, bis Mitte der fünfziger Jahre Nikita Chruschtschow an die Spitze von Staat und Partei trat und bald darauf eine neue Kampagne gegen die Religion begann. Hier und dort stellten belarussische Dorfbewohner Kreuze zum Gedenken an Opfer deutscher Vernichtungsaktionen auf, Holocaust-Überlebende errichteten Grabsteine mit hebräischen Inschriften.

Daneben besaß der Tag des Sieges auch eine geopolitische Dimension: Vor allem jedoch entwickelten sich Praktiken, die durchaus mit dem offiziellen Gedenkrepertoire kompatibel waren und dieses gleichzeitig langsam veränderten. Ortsverwaltungen schmückten Friedhöfe mit Kriegerstatuen aus den Katalogen staatlicher Gießereien. Professionelle Architekten, Amateure und Hinterbliebene errichteten auf eigene Faust Denkmäler, die am Tag des Sieges enthüllt wurden - und Verantwortliche vor Ort ließen sie oft gewähren, solange Inschriften und Symbolik nicht zu sehr von der Parteilinie abwichen. Ehemalige Frontsoldaten versammelten sich am 9. Mai an öffentlichen Plätzen oder trafen sich privat - wobei ihre Kinder sich später oft eher an Besäufnisse mit den Kameraden als an Erzählungen aus dem Krieg erinnerten; Quellen in den Archiven berichten von zahlreichen Zwischenfällen. Familien gedachten zu Hause oder auf Friedhöfen ihrer Toten. Vereinzelt hielten Veteranen an diesem Tag Vorträge in Schulen oder Betrieben, noch bevor solche Treffen zum staatlich geförderten Ritual wurden. Einzelne Lehrer organisierten für ihre Klassen Ausflüge zu Schlachtfeldern. Museumsmitarbeiter in der Provinz hatten schon während der Kriegsjahre Artefakte gesammelt und organisierten nun Ausstellungen oder gar Museen. Selbst die erste Ewige Flamme - noch in den frühen 1950er Jahren ebenso wie Gräber des Unbekannten Soldaten als bürgerliches Symbol verpönt - geht auf eine solche lokale Initiative zurück. Ein Kriegsveteran, inzwischen Kombinatsdirektor in einer Kleinstadt bei Tula, ließ sie Mitte der fünfziger Jahre anlegen, zum Andenken an umgebettete Tote aus dem Umland und als Sinnbild der sowjetischen Gasindustrie.

Daneben besaß der Tag des Sieges auch eine geopolitische Dimension: Die Staatsführung unter Nikita Chruschtschow konzentrierte sich währenddessen auf Zukunftsprojekte wie die Eroberung des Weltalls und grandiose Reformen in der Landwirtschaft. Sie ließ jedoch Armee und Veteranen gewähren und trieb sogar Großprojekte wie die Mutter-Heimat-Statue in Wolgograd und einen Siegespark in Moskau voran, die allerdings erst später realisiert wurden.

Daneben besaß der Tag des Sieges auch eine geopolitische Dimension: Nach Chruschtschows Sturz 1964 begann eine neue Ära im sowjetischen Kriegsgedenken. Auf Vorschlag des neuen ukrainischen Parteichefs Petro Schelest wurde der 9. Mai unionsweit wieder zum arbeitsfreien Feiertag ausgerufen, ebenso der 8. März als Frauentag. Neben dem Arbeitsschutz durch mehr Freizeit - Mitte der sechziger Jahre angesichts von Massenunruhen ein wichtiges Diskussionsthema im Politbüro - versprach die Rückbesinnung auf den Krieg auch eine neue Legitimitätsgrundlage. Die direkte Erinnerung an die Revolution verblasste, der Krieg jedoch hatte jede Familie getroffen. Die Mitglieder der neuen Parteiführung um Leonid Breschnew konnten - mal mehr, mal weniger wahrheitsgetreu - von ihrer kriegswichtigen Rolle erzählen.

Daneben besaß der Tag des Sieges auch eine geopolitische Dimension: Sie schöpften nun ausgiebig aus den zuvor entwickelten Praktiken und homogenisierten diese zu einem für das ganze Land verbindlichen Kriegskult mit Veteranenvorträgen, Ordensverleihungen und Ehrenwachen. Letztere erforderten Denkmäler, die nun bis in die hintersten Winkel der Sowjetunion entstanden, darunter unzählige Ewige Flammen und Gräber des Unbekannten Soldaten. Die Frontsoldaten waren zur Vätergeneration geworden und ließen sich feiern. Kinder rückten noch stärker in den Mittelpunkt der Zeremonien, die von Mobilisierungsveranstaltungen allmählich zu Ritualen der Dankbarkeit für den "friedlichen Himmel über unseren Köpfen" wurden.

Daneben besaß der Tag des Sieges auch eine geopolitische Dimension: Vor allem verstädterte sich mit der Bevölkerung auch das Kriegsgedenken. Von den zumeist ländlichen und randständigen Kriegsschauplätzen zog es in neue urbane Wohnviertel, deren Straßen und Plätze nach Kriegshelden benannt wurden. Gefallene bettete man aus umliegenden Sammelgräbern in städtische Ehrenhaine um, ringsumher entstanden Freizeitparks. Bei der Anlage von Gedenkorten richtete sich die Ortswahl nach ihrer Erreichbarkeit mit Bus und Auto. Rituale der Kriegserinnerung wurden nunmehr mit dem relativen Wohlstand der sechziger und siebziger Jahre assoziiert, der zugleich eine Atempause für Besinnung und Trauer schuf - und mit dem Siegeszug des Fernsehens auch einen Kanon von Kriegsfilmen. In dieser Zeit entstand die auf Westdeutsche oft so befremdlich wirkende Festkultur mit ihrer Mischung aus Ausgelassenheit, Siegesstolz und "Tränen in den Augen", wie es in einem berühmten Lied von 1975 heißt. Als arbeitsfreier Tag war der 9. Mai zudem noch häufiger als zuvor Anlass für Friedhofsbesuche - nicht zuletzt für jüdische Familien wurde er so zu einem allgemeinen Totengedenktag, der nicht mehr nur auf Krieg und Holocaust bezogen war.

Daneben besaß der Tag des Sieges auch eine geopolitische Dimension: Belarus und der Ukraine kam weiterhin eine Sonderstellung zu. Hier blühte ein Partisanenkult, man erinnerte nicht nur an Helden, sondern auch an Opfer wie die Einwohner verbrannter Dörfer. Vereinzelt, abseits der Hauptstädte und jenseits der Großveranstaltungen, konnten auch tabuierte Themen wie der Holocaust und Kriegsgefangenschaft zur Sprache kommen - der beliebte belarussische Parteichef Pjotr Mascherow war selbst nicht nur Partisan, sondern kurzzeitig auch Gefangener der Deutschen gewesen.

Daneben besaß der Tag des Sieges auch eine geopolitische Dimension: In den achtziger Jahren schlichen sich zunehmend kritische Töne in die Gedenkrituale. Die zahlreichen freiwilligen Suchtrupps, die in Wäldern und Sümpfen Tausende unbestatteter Tote bargen, um diese am 9. Mai zu beerdigen, straften das Versprechen des Staates Lügen, nichts und niemand sei vergessen. Immer mehr Schüler entwickelten eine ironische Distanz zu den Pflichtveranstaltungen mit immer gleichen Veteranenerzählungen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erwarteten viele ein Ende des Kriegskults.

Doch nach dem Wegfall der sozialistischen Ideologie war die Erinnerung an den Krieg in vielen der neuen Staaten das wichtigste einigende Band. Außer im Baltikum blieb der 9. Mai überall Staatsfeiertag, wenn auch mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung. Nationale und religiöse Elemente traten überall in den Vordergrund: Von Armenien bis Kasachstan wird jeweils der Beitrag der eigenen Republik zum Sieg in den Vordergrund gestellt, kaum eines der zahlreichen neuen Denkmäler kommt ohne Kreuz, Halbmond oder Davidstern aus. Der Durst nach neuem Nationalstolz machte das Kriegsgedenken vor allem in Russland zugleich immer mehr zu einem Siegesgedenken, wodurch der 9. Mai als symbolischer Endpunkt noch mehr an Bedeutung gewann. In der Sowjetunion hatten nur dreimal - 1965, 1985 und 1990 - am 9. Mai Paraden stattgefunden, unter Jelzin wurden sie 1995 zum jährlichen Ereignis.

Doch nach dem Wegfall der sozialistischen Ideologie war die Erinnerung an den Krieg in vielen der neuen Staaten das wichtigste einigende Band. Außer im Baltikum blieb der 9. Mai überall Staatsfeiertag, wenn auch mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung. Nationale und religiöse Elemente traten überall in den Vordergrund: Entgegen allen Erwartungen ist das Kriegsgedenken inzwischen zu einer Massenbewegung geworden. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die dritte Generation. Neben Veteranen der späteren Konflikte etwa in Afghanistan und Tschetschenien stehen hinter den meisten Initiativen Enkelinnen und Enkel von Kriegsteilnehmern. Wie in vielen anderen Gesellschaften zeigen sie ein besonderes Interesse an den Erfahrungen der inzwischen verstorbenen und verklärten Großeltern. Das Spektrum reicht dabei von international vernetzten Reenactment-Klubs und Amateurhistorikern über Suchtrupps bis hin zu paramilitärischen Vereinigungen und politischen Aktivisten verschiedener Couleur.

Doch nach dem Wegfall der sozialistischen Ideologie war die Erinnerung an den Krieg in vielen der neuen Staaten das wichtigste einigende Band. Außer im Baltikum blieb der 9. Mai überall Staatsfeiertag, wenn auch mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung. Nationale und religiöse Elemente traten überall in den Vordergrund: Dabei haben die äußerlich ähnlichen Rituale an verschiedenen Orten ganz unterschiedliche Bedeutung. Was in Russland oder Belarus staatstragend ist, kann in Lettland oder unter Einwanderern in Deutschland und den Vereinigten Staaten für die Aufwertung der eigenen Identität und historischen Erfahrungen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft werben. In Israel etwa fordert eine Vereinigung von Dreißigjährigen unter dem Namen "Generation 1 ½" auf Veranstaltungen zum 9. Mai Respekt für ihre russischsprachigen Eltern. Der Kanon des sowjetischen Kriegsgedenkens ist den in Israel aufgewachsenen Mitgliedern selbst dabei oft fremd. In Berlin setzt sich der Verein "Obelisk" seit Jahren für die namentliche Ehrung der in Treptow Bestatteten ein. Liberale Putin-Gegner sind in solchen Initiativen in der Minderheit. Gleichwohl sehen viele der Beteiligten Russlands aktuelle Führung durchaus kritisch. Dennoch tun Außenstehende ihre Praktiken oft pauschal als kremltreu ab - und treiben sie zuweilen dadurch erst Moskau in die Arme, das solche Aktivitäten gerne für die eigene internationale Geschichtspolitik vereinnahmt.

Doch nach dem Wegfall der sozialistischen Ideologie war die Erinnerung an den Krieg in vielen der neuen Staaten das wichtigste einigende Band. Außer im Baltikum blieb der 9. Mai überall Staatsfeiertag, wenn auch mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung. Nationale und religiöse Elemente traten überall in den Vordergrund: In Russland gibt die Politik wie in der Nachkriegszeit oft den Rahmen für solche Initiativen vor, die das Gedenken aber ihrerseits transformieren. Die neue Reisefreiheit erlaubt Besuche an vormals unzugänglichen Denkmälern und Soldatengräbern im Ausland. Das Verteidigungsministerium in Moskau stellte eine riesige Datenbank online, die zum ersten Mal Informationen über Kriegstote und deren Bestattungsort verfügbar machte. Die Individualisierung des Kriegsgedenkens wurde dadurch erst richtig ermöglicht.

Doch nach dem Wegfall der sozialistischen Ideologie war die Erinnerung an den Krieg in vielen der neuen Staaten das wichtigste einigende Band. Außer im Baltikum blieb der 9. Mai überall Staatsfeiertag, wenn auch mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung. Nationale und religiöse Elemente traten überall in den Vordergrund: Noch viel schneller als in den sechziger Jahren gelingt es dem Staat dabei, erfolgreiche Initiativen zu vereinnahmen. Ein Beispiel ist das schwarz-orange Georgsbändchen, das 2005 nach dem Vorbild der britischen Mohnblüte als Respektbekundung gegenüber Veteranen von einer Journalistin lanciert wurde. Schnell übernahmen staatliche Stellen im In- und Ausland die Verteilung. Das Bändchen wurde zum allgegenwärtigen Symbol eines oft aggressiven Patriotismus. In den Nachbarstaaten gelten seine Träger spätestens seit der Krim-Krise 2014 als fünfte Kolonne Russlands. Mehrere Länder führten Gedenkbändchen in eigenen Farben ein.

Doch nach dem Wegfall der sozialistischen Ideologie war die Erinnerung an den Krieg in vielen der neuen Staaten das wichtigste einigende Band. Außer im Baltikum blieb der 9. Mai überall Staatsfeiertag, wenn auch mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung. Nationale und religiöse Elemente traten überall in den Vordergrund: Ein weiteres Beispiel ist das erwähnte "Unsterbliche Regiment". Es wurde 2012 von einer Gruppe kritischer Journalisten in Tomsk als führerloser, individualisierter und politikfreier Gegenentwurf zu den staatszentrierten Moskauer Paraden erdacht. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Initiative über die Nachfolgestaaten der Sowjetunion und erreichte von Sydney bis Seattle auch Auswanderer und deren Kinder. Bald spaltete sich jedoch eine Fraktion ab, die die Nähe zur russischen Obrigkeit suchte. So entstand unter gleichem Namen eine aus Moskau gelenkte Bewegung. Obwohl zahlreiche lokale Gruppen des "Unsterblichen Regiments" innerhalb und außerhalb Russlands weiter ihre Distanz zum Kreml betonen, wird die Initiative von vielen als gekapert betrachtet. Umgekehrt hat jedoch sie ihrerseits dem Staat individualisierte Gedenkformen aufgezwungen.

Doch nach dem Wegfall der sozialistischen Ideologie war die Erinnerung an den Krieg in vielen der neuen Staaten das wichtigste einigende Band. Außer im Baltikum blieb der 9. Mai überall Staatsfeiertag, wenn auch mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung. Nationale und religiöse Elemente traten überall in den Vordergrund: In allen diesen Initiativen finden sich Menschen, die die staatliche Vereinnahmung bereitwillig mittragen und dadurch Karriere machen. Andere Stimmen werden schnell überdröhnt. Bezeichnend für diese Entwicklung ist die Russländische Militärhistorische Vereinigung. Unter Führung des ehemaligen Kulturministers Wladimir Medinskij hat sie sich zu der Zentralstelle für das militärische Gedenken entwickelt, die es in der Sowjetunion ironischerweise nie gab. Auch beim Bau des spendenfinanzierten Ehrenmals bei Rschew führt sie die Feder. Hier wie anderswo geht es Medinskij nicht zuletzt darum, Skepsis und Kritik aus dem Geschichtsbild auszumerzen.

Zu sowjetischen Zeiten wurde über die Kämpfe bei Rschew 1942 bis 1943 wenig gesprochen. Sie waren zwar nicht unbekannt: Mit den Worten "Ich wurde bei Rschew getötet" beginnt ein berühmtes Gedicht von Alexander Twardowskij aus dem ersten Nachkriegsjahr. Doch angesichts der enormen Verluste blieben die Details unter Verschluss. Erst in postsowjetischen Zeiten erschienen erste Studien, und im Jahr 2009 löste ein Fernsehfilm über die Schlachten eine breite öffentliche Kontroverse aus. Der Bau des Ehrenmals liest sich wie eine späte Reaktion darauf: Der Sinn der hohen Zahl von Opfern bei Rschew soll ebenso wenig hinterfragt werden wie überhaupt die Kriegsführung Stalins und seiner Generäle. Die Individualisierung des Gedenkens soll dem Opfertod einen höheren Sinn verleihen, ohne das Leben des Einzelnen wertvoller zu machen.

Als Kontrast zu dem neuen Koloss kann eine kleinere, zwei Stunden weiter südlich und abseits der großen Autostraßen gelegene Gedenkanlage dienen. Das "Bogorodizkojer Feld" erinnert an die Hunderttausenden Sowjetsoldaten, die im Herbst 1941 im Kessel von Wjasma fielen oder in Gefangenschaft gerieten. Zu sowjetischen Zeiten wurde dieses Ereignis noch viel resoluter beschwiegen als die späteren Schlachten bei Rschew. Für den Bau des Ehrenmals setzte sich jahrelang der Direktor eines örtlichen Literaturmuseums ein, bis es 2005 endlich eröffnen konnte. Ohne diese und ähnliche Initiativen hätte es das neue Memorial wohl nicht gegeben. Das Rschewer Ehrenmal verweist auch offen auf die frühere Anlage, nimmt ihr aber gleichzeitig ihr kritisches Potential: Alle Opfer, so die Botschaft, dienten letztlich dem Sieg, alles Gedenken stützt letztlich den Staat.

Als Kontrast zu dem neuen Koloss kann eine kleinere, zwei Stunden weiter südlich und abseits der großen Autostraßen gelegene Gedenkanlage dienen. Das "Bogorodizkojer Feld" erinnert an die Hunderttausenden Sowjetsoldaten, die im Herbst 1941 im Kessel von Wjasma fielen oder in Gefangenschaft gerieten. Zu sowjetischen Zeiten wurde dieses Ereignis noch viel resoluter beschwiegen als die späteren Schlachten bei Rschew. Für den Bau des Ehrenmals setzte sich jahrelang der Direktor eines örtlichen Literaturmuseums ein, bis es 2005 endlich eröffnen konnte. Ohne diese und ähnliche Initiativen hätte es das neue Memorial wohl nicht gegeben. Das Rschewer Ehrenmal verweist auch offen auf die frühere Anlage, nimmt ihr aber gleichzeitig ihr kritisches Potential: Die durch die Pandemie erzwungene Verschiebung des staatlichen Veranstaltungsprogramms in diesem Jubiläumsjahr könnte diese Konsolidierung des Gedenkens etwas bremsen. Nicht nur die Moskauer Militärparade fällt zunächst aus, auch das "Unsterbliche Regiment" und die unzähligen Volksfeste werden abgesagt. Die hurrapatriotischen, mit Georgsbändchen verzierten Ausschweifungen, die in den Augen in- und ausländischer Kritiker das gesamte Gedenken entwerten, werden weniger sichtbar sein.

Doch die symbolische Bedeutung des 9. Mai bleibt: "Das Datum selbst", so auch Präsident Wladimir Putin in seiner Begründung der Verschiebung, "kann unmöglich abgesagt oder verschoben werden." So wird sich das Gedenken aus dem stets überwachten öffentlichen Raum ins häusliche Umfeld verlagern - vor die Fernseher, ins Internet und ins familiäre Gespräch, das nur indirekt kontrolliert werden kann.

Doch die symbolische Bedeutung des 9. Mai bleibt: Ein radikaler Bruch ist nicht zu erwarten. Aber durch die häusliche Isolation könnten spontan neue Gedenkrituale entstehen. Schon seit einiger Zeit zünden viele Menschen in Russland und Nachbarländern zum Gedenken an die Weltkriegstoten am 22. Juni um 4 Uhr morgens Kerzen an - dem Zeitpunkt, als 1941 die Wehrmacht in die Sowjetunion einfiel. Und vielleicht wird anderen Initiativen ein wenig mehr Aufmerksamkeit zuteil, die sich in den vergangenen Jahren im Schatten des Siegeskults entwickelten - etwa den vielen lokalen Projekten zur Erinnerung an Stalins Terror, die sich im Übrigen mit einem reflektierten Kriegsgedenken besser vertragen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Doch die symbolische Bedeutung des 9. Mai bleibt: Der Verfasser ist Historiker und Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Einstein Forum in Potsdam.

Über diesen Podcast

Ein Blick zurück auf die Studentenrevolte von 1968, die von Markus Söder angezettelte Kreuz-Debatte oder der katalanische Nationalismus: Der neue Podcast FAZ Essay widmet sich jede Woche aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen – und gibt ihnen mit geistreichen Beiträgen von Wissenschaftlern und Politikern Tiefe und Substanz. Daniel Deckers, Politikredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, trägt die Essays aus dem Ressort „Die Gegenwart“ vor – und bietet damit umfassende Einsichten in die Geschichte hinter den Nachrichten.

von und mit Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ

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