FAZ Essay – der Podcast für die Geschichte hinter den Nachrichten

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FAZ Essay (Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ)

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Das Virus als Wegmarke

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Dieser Satz aus Psalm 90 hat für viele Menschen neue lebensweltliche Plausibilität gewonnen. Die Corona-Krise zwingt uns zu der Einsicht, dass auch unser modernes Leben gefährdet und bedroht ist von Kräften, die stärker sind als all unsere medizinische Kompetenz und unser vieles Geld.

Ein Essay über christliche Freiheit von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm.

Das Coronavirus hat die Frage unseres Umgangs mit der Freiheit auf zuweilen erschreckende Weise ins Zentrum gerückt. Dass die massiven Restriktionen, denen wir in den vergangenen Wochen ausgesetzt waren, eine Einschränkung grundlegender Freiheitsrechte bedeuteten, wird von niemandem bestritten. Umso erstaunlicher ist es, dass sie bis heute von einer großen Mehrheit der Menschen hingenommen, ja aktiv bejaht werden. Inzwischen gibt es freilich auch die anderen Stimmen – und es sind nicht nur Verschwörungstheoretiker oder Rechts- oder Linksextremisten –, die die Maßnahmen für weit überzogen halten.

Ganz bestimmt gilt auch heute, dass Freiheit mitunter heißt, gegenüber politischen und religiösen Autoritäten dem eigenen Gewissen zu folgen und dafür auch Nachteile in Kauf zu nehmen. Das, was sich in dem „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ Martin Luthers vor dem Kaiser 1521 beim Reichstag zu Worms in einem ebenso frommen wie politischen Akt der Zivilcourage zeigte, das brauchen wir heute genauso als Christen in der Zivilgesellschaft. Wären dann nicht die massiven Freiheitseinschränkungen während der vergangenen Wochen der Anlass gewesen, um genau bei diesem Thema die gesunde Portion öffentlicher Aufsässigkeit einer Institution wie der Kirche zu zeigen, die wir immer wieder brauchen?

Dass meine Antwort auf diese Frage ein Nein ist, hat zu tun mit einem Verständnis von Freiheit, in dem Freiheit immer auch Dienst am Nächsten heißt. Es geht nicht um die Verfolgung der eigenen persönlichen oder wirtschaftlichen oder auch religiösen Interessen, sondern es geht um die je unterschiedliche Form der Antwort auf Jesu Doppelgebot der Liebe.

Freiheit geht im christlichen Verständnis immer einher mit Liebe und Verantwortung. Sie folgt deswegen immer auch der Stimme der Vernunft. Deswegen durfte es auch für uns als Kirchen im Umgang mit den staatlichen Maßnahmen zur Begrenzung der steigenden Infektionszahlen nie die erste Frage sein: Wie können wir schnellstmöglich wieder ungehindert in unseren Kirchen Gottesdienste feiern? Sondern die zentrale Frage musste immer zweifach sein: Erstens: Wie können wir dazu beitragen, dass unser Gesundheitssystem nicht an einen Punkt kommt, an dem Menschen qualvoll sterben, weil die Kapazitätsgrenzen erreicht sind? Und zweitens: Woher kommt die Kraft dazu, trotz Angst und Gefährdungen dem Nächsten auch geistlich zu dienen? Was können wir tun, damit die Menschen in dieser Zeit Trost finden und die Zuversicht behalten? Und die innere Kraft bekommen, so mit dieser nie dagewesenen Situation umzugehen, dass nicht der Geist der Furcht die Oberhand gewinnt, sondern der „Geist der Kraft, Liebe und Besonnenheit“ (2. Tim 1,7) sich ausbreitet.

Die Antwort auf diese beiden Fragen ist eng verbunden mit der theologischen Interpretation der Krise. Wo ist Gott in dieser Krise? Ist das Auftreten dieses gefährlichen Virus ein klares Indiz dafür, dass es keinen Gott gibt? Denn wie könnte der Schöpfer sein eigenes Werk zerstören? Oder ist es umgekehrt: Ist genau in diesem Virus Gottes Handeln zu sehen, mit dem er die Menschen zur Umkehr bringen will? Oder gibt es einen Gott, aber er kann schlicht nichts machen?

Eine Haltung, die hier Gott zu erklären versucht, führt nicht weiter. „Niemand hat Gott je gesehen“, heißt es im Johannesevangelium (1,18), und dieses Staunen über Gottes Unbegreiflichkeit gehört zum Glauben. Doch derselbe Johannestext spricht von der Sichtbarkeit Gottes in Jesus Christus. Es ist dieses beides in einem: die Erfahrung, der Unbegreiflichkeit Gottes einerseits und die große Nähe andererseits, die sich in der Erscheinung Jesu manifestiert.

Eine Haltung, die hier Gott zu erklären versucht, führt nicht weiter. „Niemand hat Gott je gesehen“, heißt es im Johannesevangelium (1,18), und dieses Staunen über Gottes Unbegreiflichkeit gehört zum Glauben. Doch derselbe Johannestext spricht von der Sichtbarkeit Gottes in Jesus Christus. Es ist dieses beides in einem: Die Offenbarung Gottes in Christus weist daher den Erkenntnisweg. Denn für die christliche Tradition spielt die Offenbarung eine zentrale Rolle. Das Bedenken und Verstehen des Wirkens Gottes in der Welt ist schlichtweg unmöglich, ohne die Zeugnisse all der Gotteserfahrungen miteinzubeziehen, die in den biblischen Texten aufgeschrieben und in den Bekenntnissen über viele Jahrhunderte bis heute weitergegeben wurden.

Eine Haltung, die hier Gott zu erklären versucht, führt nicht weiter. „Niemand hat Gott je gesehen“, heißt es im Johannesevangelium (1,18), und dieses Staunen über Gottes Unbegreiflichkeit gehört zum Glauben. Doch derselbe Johannestext spricht von der Sichtbarkeit Gottes in Jesus Christus. Es ist dieses beides in einem: Für unser Reden über Gottes Wirken in der Corona-Krise ist das entscheidend. Denn wir Christen glauben an einen Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat. Und Jesus hat nicht getötet. Jesus hat geheilt. Jesus hat Leben gerettet und nicht vernichtet. Gott – so sagen wir auf diesem Hintergrund – ist kein Rachedämon, er schickt kein Virus, um Menschen zu bestrafen, und dazu noch so, dass damit zuallererst die Schwachen und Verletzlichen getroffen werden.

Eine Haltung, die hier Gott zu erklären versucht, führt nicht weiter. „Niemand hat Gott je gesehen“, heißt es im Johannesevangelium (1,18), und dieses Staunen über Gottes Unbegreiflichkeit gehört zum Glauben. Doch derselbe Johannestext spricht von der Sichtbarkeit Gottes in Jesus Christus. Es ist dieses beides in einem: Man hat zur Untermauerung einer aktiven Rolle Gottes bei der Verursachung der Corona-Pandemie zuweilen Luthers Lehre vom „verborgenen Gott“ bemüht. In dem Leid, das Menschen darin trifft, zeige sich der „deus absconditus“, dessen Handeln wir nicht verstehen könnten, aber im Vertrauen auf einen zwar manchmal rätselhaften, aber am Ende eben doch liebenden Gott annehmen müssten.

Wenn Menschen im Versuch, Gottes Wirken in ihrem Leben zu verstehen, ihre eigenen Leiderfahrungen so deuten, dann gebührt diesem Anliegen großer Respekt. Wird es aber zur Grundlage von abstrakter Welterklärung, kann das Reden vom verborgenen Gott aber schnell zur menschlichen Verdunklung des Wirkens Gottes werden. Denn dieses Wirken kann nie abstrahiert gedacht werden von der liebevollen Zuwendung Gottes zu den Menschen, die sich Jesus Christus gezeigt hat. Im Erstickungstod Hunderttausender Menschen an Beatmungsgeräten in Krankenhäuser in aller Welt Gottes die verborgene Liebe zu entdecken gerät schnell ins Absurde, ja Zynische. Deswegen hat sich evangelische Theologie seit der Reformation an den von Sokrates übernommenen Merksatz gehalten: „Quae supra nos, nihil ad nos“ – Was über uns hinausgeht, geht uns nichts an.

Wenn Menschen im Versuch, Gottes Wirken in ihrem Leben zu verstehen, ihre eigenen Leiderfahrungen so deuten, dann gebührt diesem Anliegen großer Respekt. Wird es aber zur Grundlage von abstrakter Welterklärung, kann das Reden vom verborgenen Gott aber schnell zur menschlichen Verdunklung des Wirkens Gottes werden. Denn dieses Wirken kann nie abstrahiert gedacht werden von der liebevollen Zuwendung Gottes zu den Menschen, die sich Jesus Christus gezeigt hat. Im Erstickungstod Hunderttausender Menschen an Beatmungsgeräten in Krankenhäuser in aller Welt Gottes die verborgene Liebe zu entdecken gerät schnell ins Absurde, ja Zynische. Deswegen hat sich evangelische Theologie seit der Reformation an den von Sokrates übernommenen Merksatz gehalten: Allein in der Zeit von Luthers Wirken in Wittenberg wurde die Stadt fünfmal von der Pest heimgesucht. Als die Universitätsstadt 1527 von der Pest getroffen wurde, wurden die Vorlesungen in eine nicht betroffene Stadt verlegt. Dennoch weigerte Luther sich, zu gehen. Stattdessen entschied er sich, für Kranke und Sterbende zu sorgen, und verwandelte sein Zuhause in ein provisorisches Krankenhaus.

Ausdrücklich lobt er in seiner Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ von 1527 den Segen eines gut ausgestatteten öffentlichen Gesundheitswesens. Da, wo es durch zivilgesellschaftliches Engagement ersetzt werden muss, hebt er das ausdrücklich als Dienst hervor, der sich aus Liebesgebot und Goldener Regel ergibt: „Wohl ist’s wahr: wo ein solch stattliches Regiment in Städten und Landen ist, dass man allgemeine Häuser und Spitäler halten und mit Leuten, die sie betreuen, versorgen kann, wohin man aus allen Häusern alle Kranken verordnete..., dass nicht ein jeglicher Bürger in seinem Hause ein Spital halten müsste, das wäre wohl fein, löblich und christlich. Dazu sollte auch billig jedermann reichlich geben und helfen, besonders die Obrigkeit. Wo das aber nicht ist, ...da müssen wir fürwahr einer des andern Spitalmeister und Pfleger in seinen Nöten sein ... Denn da steht Gottes Wort und Gebot (Matthäus 22, 39): ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘, und Matthäus 7, 12: ,Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.‘“

Ausdrücklich lobt er in seiner Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ von 1527 den Segen eines gut ausgestatteten öffentlichen Gesundheitswesens. Da, wo es durch zivilgesellschaftliches Engagement ersetzt werden muss, hebt er das ausdrücklich als Dienst hervor, der sich aus Liebesgebot und Goldener Regel ergibt: Es braucht, damals wie heute, kompetente ärztliche Hilfe und Vorsicht im Umgang der Menschen miteinander, um Ansteckungen so weit wie möglich zu vermeiden. Wer den Glauben ernst nimmt, der übt Verantwortung, der wird nicht leichtsinnig und schaut nicht nur „auf das Seine“. Die Kirchen und ihre Mitarbeitenden haben versucht, solche Verantwortung zu üben und unter schwierigen Bedingungen den ihnen aufgetragenen Dienst zu tun. Gerade bei der Seelsorge in Altenheimen und Krankenhäusern war das mit unauflösbaren Zielkonflikten verbunden – zwischen dem dringlichen Wunsch nach größtmöglicher, auch körperlicher Nähe einerseits und der Begrenzung des gerade hier potentiell tödlichen Ansteckungsrisikos andererseits. Durch eingeschleppte Viren bedingte Häufungen von Todeszahlen in den Heimen einfach zu ignorieren wäre jedenfalls verantwortungslos gewesen. In diesen Zielkonflikten Menschen auch etwas schuldig geblieben zu sein ist eine Last, die wir zu tragen haben und nur in Gottes Hand legen können.

Ausdrücklich lobt er in seiner Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ von 1527 den Segen eines gut ausgestatteten öffentlichen Gesundheitswesens. Da, wo es durch zivilgesellschaftliches Engagement ersetzt werden muss, hebt er das ausdrücklich als Dienst hervor, der sich aus Liebesgebot und Goldener Regel ergibt: Die Gottesdienste nicht gemeinsam in unseren Kirchen feiern zu können war schmerzlich. Aber sie sind nicht einfach ausgefallen, sie haben wie viele andere Veranstaltungen in anderer Form stattgefunden – oft digital und mit zum Teil überraschend großer Resonanz, gerade bei Menschen, die wir sonst kaum erreichen. Viele haben mit klugen, praktikablen Ideen dazu beigetragen. Zum Glück sind Gottesdienste und Seelsorge jetzt wieder besser möglich, auch wenn wir noch vieles vermissen.

Luther erinnert – ganz in diesem Sinne – neben der solidarischen Pflicht auch an diese andere, die geistliche Aufgabe des Glaubens. Auch wenn er als Kind seiner Zeit von der Pest gelegentlich als Strafe Gottes spricht, ist sie für ihn vor allem eine Art Bewährungsprobe für den Glauben. An die Stelle von Erschrecken und Verzweiflung setzt er das Vertrauen in Christus und die daraus erwachsende Liebe. „Wenn aber jemand das Grauen und Scheuen vor den Kranken zustößt, der soll sich einen Mut fassen und sich so stärken und trösten, dass er nicht zweifle, es sei der Teufel, der solche Scheu, Furcht und Grauen im Herzen erregt. Denn so ein bitterböser Teufel ist’s, dass er nicht alleine ohne Unterlass zu töten und zu morden sucht, sondern seine Freude darin sucht, dass er uns scheu, erschreckt und verzagt zum Tode mache ... Wenn er’s zuwege brächte, dass wir an Gott verzweifeln, unwillig und unbereit zum Sterben würden und in solcher Furcht und Sorge, wie im dunkeln Wetter, Christus, unser Licht und Leben, vergäßen und verlören und den Nächsten in Nöten ließen und uns so an Gott und den Menschen versündigten: das wäre seine Freude und Lust.“

Sosehr Luther in seinen spätmittelalterlichen Kategorien auch von der Indienstnahme des Teufels durch Gott gesprochen hat, so klar kommt in seinen Deutungen zum Ausdruck, dass es die Liebe ist, die Gottes Wirken in der Welt kennzeichnet: Der Teufel – um mit Luther in die heutige Situation hinein zu sprechen – schickt sich mit dem Coronavirus an, gleichsam zweifach zu triumphieren und damit auf ganzer Linie: Ohne verantwortliches Handeln verurteilt das Virus ungezählte Menschen zum Tod. Und wo es Angst schürt, zerfrisst es die Seelen mit Furcht und Grauen.

Wer aber auf Christus vertraut, den kann der Teufel der Rücksichtslosigkeit und der Angst nicht erschrecken. Der hat die innere Kraft, zu helfen, so als ob es Gott selbst wäre, dem er hilft: „Da hörst du, dass der Liebe Gebot zum Nächsten gleich sei dem ersten Gebot, der Liebe zu Gott, und was du deinem Nächsten tust oder lässt, soll heißen so viel wie Gott selbst getan und gelassen.“

Aus den Worten Luthers spricht ein tiefes, österliches Vertrauen auf das rettende und heilende Handeln Gottes: Wo Menschen sterben, sind sie geborgen in der Liebe Gottes, von der uns auch der Tod nicht trennen kann. Dieses Vertrauen hat auch heute viele Menschen in den zurückliegenden Wochen getragen. Dass Gott da ist mitten in der Krise, das haben Menschen gerade in der Karwoche und an den Ostertagen gespürt, in denen wir uns an das Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi erinnert haben. „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen“ (Matthäus 27,46). So hat Jesus am Kreuz geschrien. Und so haben sich von der Corona-Krise betroffene Menschen heute gefühlt: Einsame, Depressive, Kranke in den Kliniken und die, die mit dem Tod gerungen haben. Oder manche Angehörige, die einen lieben Menschen verloren haben und kaum noch eine würdige Beerdigung feiern konnten.

Umso wichtiger war es, dass überall in Deutschland der Osterruf laut vernehmbar erklungen ist: Der Tod hat nicht das letzte Wort! „Der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!“ Ostern ist nicht ausgefallen. Die Osterbotschaft wurde 2020 vielfach gehört, vielleicht sogar intensiver als in allen Jahren zuvor. Denn sie war in vielen neuen Formaten zu hören: in Radio- und Fernsehgottesdiensten, deren Einschaltzahlen in die Höhe geschnellt sind, und in allen möglichen neuen digitalen Formaten, die für viele Trost spendeten und für manche eine unerwartete Aufbruchsstimmung erzeugt haben.

Massive Krisenerfahrungen prägen – wenn sie globale Ausmaße haben – auch die Zeit danach: der 11. September 2001 hatte nachhaltige Wirkungen auf die Weltpolitik und auf den Umgang mit religiösen Formen des Fundamentalismus. Die Finanzkrise 2008 hat das destruktive Potential eines ungehemmten Finanzkapitalismus offenbart und milieuübergreifend die Skepsis gegenüber einer immer größeren Ablösung der Finanzströme von der Wertschöpfung gesteigert. Und erst recht wird die Corona-Krise – eine der schwersten Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg – fundamentale Folgen für die sozialpsychologischen, sozialkulturellen und sozialspirituellen Tiefenstrukturen unserer Gesellschaften haben.

Zuerst wird es die Erkenntnis sein, wie verletzlich wir trotz der ungeheuren materiellen und technologischen Möglichkeiten der heutigen Zivilisation nach wie vor sind. Kaum jemand hätte sich vorstellen können, wie tief das Auftreten eines solchen Virus in die täglichen Lebenskontexte von Milliarden Menschen eingreifen würde. Der „homo faber“, der Machermensch, der doch alles kann und will und schafft, wird plötzlich wieder daran erinnert, wie gefährdet das Leben ist und wie schnell er an die Grenzen des Lebens stoßen kann: Krankheit, Siechtum, schnelles Sterben sind Erfahrungen, die wir oftmals verdrängen, in die Krankenhäuser und Altenheime abschieben und als ganze Gesellschaft nicht mehr wahrnehmen. Plötzlich aber denken alle nach über Krankenhauskapazitäten und Sterberaten, Ansteckungsrisiken und Trauergottesdienste.

Zuerst wird es die Erkenntnis sein, wie verletzlich wir trotz der ungeheuren materiellen und technologischen Möglichkeiten der heutigen Zivilisation nach wie vor sind. Kaum jemand hätte sich vorstellen können, wie tief das Auftreten eines solchen Virus in die täglichen Lebenskontexte von Milliarden Menschen eingreifen würde. Der „homo faber“, der Machermensch, der doch alles kann und will und schafft, wird plötzlich wieder daran erinnert, wie gefährdet das Leben ist und wie schnell er an die Grenzen des Lebens stoßen kann: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Dieser Satz aus Psalm 90 gewinnt für nicht wenige Menschen neue lebensweltliche Plausibilität. Die Corona-Krise zwingt uns zu der Einsicht, dass auch unser modernes Leben gefährdet und bedroht ist von Kräften, die stärker sind als all unsere medizinische Kompetenz und unser vieles Geld.

In christlicher Perspektive kommen hier geistliche Dimensionen wie Demut und Akzeptanz, Ergebung und Annahme ins Spiel – ambivalente Begriffe, weil sie auch missbraucht werden können. Aber sie haben von Haus aus gar nichts mit Schicksalsergebenheit oder unkritischem Verhalten zu tun, sondern mit dem Mut, seine Grenzen zu erkennen, um seine Gefährdungen zu wissen und dennoch aus Zuversicht und Hoffnung zu leben. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat diesen Ton zu Recht gesetzt: Gesundheit ist keineswegs das höchste Gut und alles andere überragender Anspruch. In einer säkularen Gesellschaft ist es die Würde des Menschen, in christlicher Perspektive ist es, noch umfassender, Gott. Der Glaube an Gott erinnert den Menschen an seine Geschöpflichkeit und öffnet ihm so jenes Wissen um seine Gefährdungen neu. Die Grenzen menschlicher Möglichkeiten zu sehen und die Frage nach Gott und damit nach dem Sinn menschlichen Lebens neu zu stellen, dazu zu ermutigen ist eine wichtige Aufgabe der Kirchen auch nach der Krise.

Es gibt ein Zweites, was wir – wenn es gut läuft – für die Seele unserer auseinanderstrebenden Gesellschaft aus den Erfahrungen der Corona-Pandemie mitnehmen können: Zuversicht und Gemeinsinn. Beides erwächst sowohl aus dem Glauben als auch der Vernunft. Beides haben wir in den zurückliegenden Wochen in oft eindrucksvoller Weise erlebt. Und wir haben gesehen: Liberale Demokratien sind auch in solchen Situationen handlungsfähig! Dass der Streit über die Notwendigkeit und Legitimität der verhängten Restriktionen jetzt verstärkt geführt wird, ist kein Indiz gegen diese Wahrnehmung, sondern deren Bestätigung. Kurzfristig zum Lebensschutz notwendige Freiheitsbeschränkungen sind nicht auf Dauer gestellt worden. Der demokratische Diskurs findet statt. Er stößt indessen dort an seine Grenzen, wo er für Verschwörungstheorien oder für sachfremde politische Interessen instrumentalisiert wird.

Umso wichtiger ist es, in den aktuellen Meinungskämpfen diejenigen nicht aus den Augen zu verlieren, die besonders auf unser Verantwortungsgefühl angewiesen sind: die Schwächsten und Kleinsten, die Alten und die Kinder – aber auch die Menschen, die auf viel zu engem Raum in Flüchtlingsunterkünften untergebracht sind. Wir brauchen dringend Unterstützung für Eltern mit Kindern und Konzepte für die Kitas und Grundschulen. Auch für unsere kirchlichen Kindergärten, Schulen sowie Betreuungs- und Beratungsangebote muss der Anspruch sein: Wir lassen gerade in der Krise niemanden zurück.

Das Dritte, das wir für die seelischen Tiefenstrukturen unserer Gesellschaften aus den Erfahrungen der Corona-Pandemie mitnehmen können, ist die Bereitschaft zur Transformation. Denn nun treten die Weichenstellungen in den Blick, die bei dem jetzt beginnenden Neustart vorzunehmen sind:

Das Dritte, das wir für die seelischen Tiefenstrukturen unserer Gesellschaften aus den Erfahrungen der Corona-Pandemie mitnehmen können, ist die Bereitschaft zur Transformation. Denn nun treten die Weichenstellungen in den Blick, die bei dem jetzt beginnenden Neustart vorzunehmen sind: Schon in der Antike, aber natürlich auch im Mittelalter und in der Neuzeit bis hin zur „Spanischen Grippe“ Anfang des 20. Jahrhunderts verbanden die Menschen mit einer Seuche immer den Gedanken einer notwendigen Umkehr. Pestzeiten waren immer auch Zeiten der Buße, der Umkehr und der Neuausrichtung. Die Menschen fragten sich intensiver als im normalen Alltag, was sie falsch gemacht haben, ob sie sündig lebten, also Gott und den Nächsten missachteten.

Das Dritte, das wir für die seelischen Tiefenstrukturen unserer Gesellschaften aus den Erfahrungen der Corona-Pandemie mitnehmen können, ist die Bereitschaft zur Transformation. Denn nun treten die Weichenstellungen in den Blick, die bei dem jetzt beginnenden Neustart vorzunehmen sind: Heute gibt es Anlass darüber nachzudenken, wie wir unseren persönlichen, aber auch gesellschaftlichen Lebensstil den Grenzen des Planeten anpassen können. Der Raubbau an der Natur und das immer weitere Vordringen in die Lebensräume der Tiere befördert nicht nur den Klimawandel, sondern hat vermutlich auch sehr viel mit der Übertragung von tödlichen Krankheiten wie dem Coronavirus zu tun. Viele Menschen weltweit haben sich auf den Weg gemacht, viele wichtige politische Initiativen sind gestartet worden – von der Bewegung „Fridays for future“ bis zu den EU-Projekten zum Umweltschutz oder den weltweiten Verabredungen gegen die Erderhitzung.

Das Dritte, das wir für die seelischen Tiefenstrukturen unserer Gesellschaften aus den Erfahrungen der Corona-Pandemie mitnehmen können, ist die Bereitschaft zur Transformation. Denn nun treten die Weichenstellungen in den Blick, die bei dem jetzt beginnenden Neustart vorzunehmen sind: Aus der globalen Corona-Krise kann und muss beim Neustart eine Globalisierung der Verantwortung erwachsen. Sie gründet in dem Bewusstsein dafür, wie sehr wir als Menschen in den unterschiedlichsten Teilen der Welt verbunden sind. Aus dem Glauben an den Gott, der die gesamte Welt aus Liebe geschaffen hat, hat die Kirche immer den Auftrag abgeleitet, diesen globalen Zusammenhang der Menschheit und der Natur im Blick zu behalten und zu bewahren. Finanzkrisen und Flüchtlingsbewegungen haben uns die Notwendigkeit dieser Gesamtperspektive bereits deutlich gemacht. Die Pandemie tut dies auf eine neue Art und Weise. Sie betrifft die globale Völkergemeinschaft.

Das Dritte, das wir für die seelischen Tiefenstrukturen unserer Gesellschaften aus den Erfahrungen der Corona-Pandemie mitnehmen können, ist die Bereitschaft zur Transformation. Denn nun treten die Weichenstellungen in den Blick, die bei dem jetzt beginnenden Neustart vorzunehmen sind: Globalisierte Verantwortung bedeutet, sich nach der Corona-Krise noch entschiedener für eine gemeinsame Klimapolitik der Weltgemeinschaft stark zu machen. Es bedeutet auch, dass wir die hoffentlich bald gefundenen Impfstoffe und andere wichtige medizinische Fortschritte weltweit teilen. Und es muss bedeuten, bei Produktionswegen und Lieferketten für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zu sorgen. Ein gerechtes Wirtschaftssystem braucht wertbasierte Liefer- und Wertschöpfungsketten, damit die Situation der Schwächsten so weit wie möglich verbessert wird und alle Menschen in Würde leben und arbeiten können. Die Sorge um das je eigene, gar nur national gedachte Wohlergehen darf nicht dazu führen, die weltweite Verantwortung aus dem Blick zu verlieren. Und vielleicht erwächst aus dieser Krise eine notwendige Energie, entschlossen daran zu arbeiten. Der christliche Geist jedenfalls bewegt uns dazu.

In diesen Tagen feiern wir mit Christinnen und Christen in aller Welt das Pfingstfest; es ist der Geburtstag der einen Kirche, in der wir jenseits der Konfessionen alle verbunden sind. Und dieser Pfingstgeist Gottes ist mitten unter uns, denn er kämpft mit uns und durch uns auch gegen das Virus: Den einen schenkt er Tapferkeit und Zuversicht, den anderen gute Ideen in der wissenschaftlichen Forschung. Gottes guter Geist wirkt in uns, indem er die einen tröstet und die anderen motiviert durchzuhalten. Dem einen schenkt er Kraft in der Krankheit, dem anderen Gelassenheit mitten im Sturm des Alltags. Gottes Geist kämpft für seine Menschen, und das mit allen Engeln und guten Geistern – nicht wissenschaftlich messbar, aber im Herzen spürbar. Es gibt unendlich viele hilfreiche Spuren, die er in der Welt hinterlassen hat durch Menschen, die ihm vertrauten und aus deren Zeugnissen wir auch heute noch Kraft und Inspiration schöpfen.

In diesen Tagen feiern wir mit Christinnen und Christen in aller Welt das Pfingstfest; es ist der Geburtstag der einen Kirche, in der wir jenseits der Konfessionen alle verbunden sind. Und dieser Pfingstgeist Gottes ist mitten unter uns, denn er kämpft mit uns und durch uns auch gegen das Virus: Zuerst natürlich aus der Bibel mit ihren Zusagen und Verheißungen. Hier kann jeder und jede in der Sprache der Psalmen oder der Gleichnisse Jesu Worte des Lebens finden. Dann in den Liedern, die wir hoffentlich bald wieder ohne Beschränkungen gemeinsam singen können, die Mut machen und das Herz berühren. Aber auch in großer Musik, die uns tröstet und erbaut. Und natürlich gibt es Spuren der Ermutigung durch Gottes Geist in großer Literatur und tiefen Gedichten, in den Bildern der Jahrhundertkünstler und den Geschichten der Gegenwart. Und in starken Gesten der Humanität, in einfühlsamer Zuwendung zu Menschen, die Zuspruch brauchen, und kraftvoller materieller Solidarität.

In diesen Tagen feiern wir mit Christinnen und Christen in aller Welt das Pfingstfest; es ist der Geburtstag der einen Kirche, in der wir jenseits der Konfessionen alle verbunden sind. Und dieser Pfingstgeist Gottes ist mitten unter uns, denn er kämpft mit uns und durch uns auch gegen das Virus: Dietrich Bonhoeffer hat vom „Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit“ gesprochen. Darauf kommt es jetzt an. Im Gespräch mit Gott Kraft und Orientierung gewinnen. Aus dieser Kraft beherzt handeln. Und dabei wissen, dass wir uns damit immer nur im Vorletzten bewegen. Das Letzte steht noch aus. Wir gehen darauf nicht furchtsam zu, sondern voller Zuversicht.

In diesen Tagen feiern wir mit Christinnen und Christen in aller Welt das Pfingstfest; es ist der Geburtstag der einen Kirche, in der wir jenseits der Konfessionen alle verbunden sind. Und dieser Pfingstgeist Gottes ist mitten unter uns, denn er kämpft mit uns und durch uns auch gegen das Virus: Der Verfasser ist Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Über diesen Podcast

Ein Blick zurück auf die Studentenrevolte von 1968, die von Markus Söder angezettelte Kreuz-Debatte oder der katalanische Nationalismus: Der neue Podcast FAZ Essay widmet sich jede Woche aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen – und gibt ihnen mit geistreichen Beiträgen von Wissenschaftlern und Politikern Tiefe und Substanz. Daniel Deckers, Politikredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, trägt die Essays aus dem Ressort „Die Gegenwart“ vor – und bietet damit umfassende Einsichten in die Geschichte hinter den Nachrichten.

von und mit Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ

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